Diese Folge Angscht a Schrecken ist im Rahmen eines sogenannten Durchführbarkeitstreffen enstanden. Deshalb ist sie auf Deutsch. Sie wurde möglich durch Finanzierung der europäischen Komission. Die Inhalte dieser Folge spiegeln jedoch nicht unbedingt die Meinung der europäischen Komission wieder. Eigentlich hat der Autor keine Ahnung, was die Komission so über den Wenzelspfad denkt. Wie sollte er auch?
Ich war auf jeden Fall Teil dieses deutsch-österreichisch-polnisch-luxemburgischen Vorbereitungsteams für einen deutsch-österreichisch-polnisch-luxemburgischen Austausch. Ein Wochenende lang grübelten wir über mögliche gemeinsame Aktivitäten im Sommer nach. Was bisweilen sehr anstrengend sein kann.
Wir hatten uns dazu in der Luxemburger Jugendherberge verschanzt, die sich in Clausen befindet. Für diejenigen Hörer, die nicht wissen, wo Clausen ist: Luxemburg-Stadt wurde auf einem Felsen errichtet. Clausen befindet sich in dem Loch unter diesem Felsen. Wo früher der Pöbel wohnte, sind heute Cafés und Jugendherbergen. Was auch immer das heißen mag.
Ein Teil der Gruppe hatte schon am Vortag die Stadt unsicher gemacht und war dabei auf ein merkwürdiges Stück Kultur gestossen, das man als „Einheimischer“ kaum beachtet – oder nicht beachten will. Es handelt sich hierbei um die wunderbare Welt der Postkarten, die im allgemeinen für ihr gutes Wetter bekannt ist. In Luxemburg gibt es nicht besonders viel, was man für Postkarten fotographieren kann. Hauptsächlich altes Gemäuer halt, aber insgesamt gibt es keine eindrucksvolle Skyline oder ein weltberühmtes Gebäude, das man bei guten Wetter ablichten und auf Postkarten drucken könnte. Natürlich gibt es trotzdem Postkarten von allen mehr oder weniger schönen Ansichten der Hauptstadt.
Und es gibt Postkarten mit der großherzoglichen Familie.
Ich weiß nicht, ob es das in anderen Ländern auch gibt, also Postkarten mit den Herschern. Aber mich persönlich hat diese Information überrascht. Als ich die Karten dann gesehen habe, wusste ich nicht, welches Gefühl überwiegen würde: Lachen, Angst oder Schrecken?
Die großherzogliche Familie. In „légere“. Auf irgendeiner Terasse. Die Prinzen mit aufgeknöpften und halb umgebundenen Fliegen. Als ob es in Luxemburg je so warm sein würde, dass man seine Hemden halb aufknöpfen würde. Das wäre ja noch zu verkraften gewesen. Aber ganz schlimm war die Prinzessin.
Sie saß mit angewinkelten Beinen auf einem roten Sessel. Und sie hielt ihre Schuhe in der Hand.
Jetzt wusste ich, welches Gefühl überwiegen würde: Angst und Schrecken. Meine beiden alten Bekannten war in diesem Loch, in dieser Jugendherberge, wahrscheinlich sogar in diesem Raum.
Wieso hatte die Prinzessin ihre Schuhe nicht an?
Uns fielen sofort einige Theorien ein. Vielleicht waren es gar nicht die Schuhe der Prinzessin, sondern die einer Bettgeschichte von einem der Prinzen, und die Schuhe sind ein (zugegebenermassen nicht sehr gut) versteckter Hinweis auf eben diese Bettgeschichte. Vielleicht hatte die Prinzessin diese Schuhe auch einfach irgendwo im großherzoglichen Palast gefunden und hielt sie mit einer „Wem gehören diese Schuhe“-Geste hoch?
Eine andere, weitaus realistischere Theorie besagte, dass die Prinzessin die kleine Rebellin am Hof sei. Und ihre Schuhe ausziehen und sie in der Hand halten sei wohl das rebellischste, was sie tun könnte.
Alle diese Theorien hatten eins gemein: Sie erklären die vorhandenen Fakten und befriedigten mich nicht vollends. Angst und Schrecken nagten an meinen Füßen wie es sonst nur der junge Hund tut, der sich seit einigen Wochen in dem Haus aufhällt, in dem ich zu schlafen pflege.
Nachdem wir einen ganzen Morgen lang fleissig nachgedacht, diskutiert und unsere Köpfe zum rauchen gebracht hatten – übrigens nicht nur wegen der Schuh-Geschichte, fanden wir, dass es an der Zeit war, einen kleinen Spaziergang zu machen. Und welcher Weg könnte sich in Luxemburg-Stadt dazu besser eignen als der berühmt-berüchtigte Wenzelspfad?
Für jene, die das nicht wissen: Der Wenzelspfad ist nach dem berühmten luxemburgischen Herzog Wenzel dem Zweiten benannt und führt durch und vorbei an allerlei altem Gemäuer, das man sich wahlweise ansehen oder auch besteigen kann. Das ganze ist dem Namen nach ein Rundweg.
Wir gingen also den freundlichen Schildern nach und kamen an allerlei alten Gemäuer vorbei. Als Gastgeber hat man ständig das Gefühl, man müsse seinen Gästen alle möglichen nützlichen oder unnützen Informationen zu den Plätzen, an denen man sich gerade befindet, mit auf den Weg geben. Dass es irgendwo in Luxemburg-Stadt ein Gemäuer gibt, das von den Menschen „Hohler Zahn“ genannt wird, ist wohl nicht unbedingt das, was man am längsten im Gedächniss behällt. Oder es sing gerade solche Informationen, die den Platz für die wirklich wichtigen Dinge im Leben, wie beispielsweise Dynamische Raumgeometrie oder die Lage der finnischen 1000-Einwohner-Gemeinde Kivijärvi wegnehmen.
Anderseits wird man sich solche unnütze Informationen herbeiwünschen, sollte sich je in der misslichen Lage befinden, sich selbst in einer Fernsehquizshow wiederzufinden und völlig ratlos vor der Millionenfrage zu sitzen. Die wird dann wahrscheinlich lauten: Wieso hat die Prinzessin ihre Schuhe nicht an?
Angst und Schrecken begleiteten uns auf unserem ständigen Auf und Ab auf dem schrecklichen Wenzelspfad. Die Beschilderung wurde mit der Zeit immer schlechter. Mal wiesen die Pfeile einfach auf den Boden, mal waren sie von Sprayern übermalt worden, was der Orientierung wenig diente.
Ausserdem tauchten auf dem Boden ständig irgendwelche Metallplatten auf, auf denen „Photo-Point“ stand. Auf diesem Weg durfte man also nur auf dafür vorgesehenen Punkten fotographieren. Wahrscheinlich war diese Regel auf Bestreben der internationalen Postkartenindustrie eingeführt worden, die ihre Monopolstellung ob der immer größeren und billigeren Verfügbarkeit von Fotodruckern in Gefahr sah.
Wahrscheinlich waren die vielen Menschen, die unseren Weg kreuzten, Kontrolleure, die Fotographierende ausserhalb der Photo-Points verwarnten oder gar festnahmen. Angst und Schrecken wurden größer. Was würde dieser Pfad, der offensichtlich rund um diesen Höllenschlund führte, noch für Schrecklichkeiten aufweisen?
An einer Stelle spielte plötzlich Musik. Ein Schild wies sie als Schlachtgesang aus dem 16. Jahrhundert. Ich fand die Idee, den Aufstieg in einem Wachturm musikalisch zu untermalen, sehr nett, aber woher wusste man eigentlich, wie Schlachtgesang im 16. Jahrhundert geklungen hat? Vor allem die großzügige Instrumentalisierung des Stückes liess mich ein wenig an der Authentizität zweifeln. Und im allgemeinen klang das ganze sehr martialisch. Als wollte man uns auf ein schlimmes Ende vorbereiten…
An anderer Stelle versprach man uns ein audiovisuelles Spektakel. Wir bestiegen voller Vorfreude eine steile Treppe und hasteten über ein Gemäuer zu der verheißungsvollen Tür. Diese war geschlossen. Zu. Kein Audiovisuelles Spektakel. Dafür nur reichlich Angst und Schrecken und der Hinweis, man solle doch einfach warten, bis die Tür wieder aufgehe. Was wahrscheinlich erst im Sommer wieder der Fall sein wird.
Irgendwann waren wir im Grund angekommen. Für die Leute, die nicht wissen, was der Grund ist: Der Grund ist die andere Seite des Felses, auf dem die Stadt Luxemburg erbaut ist. Also ein Loch, in dem früher der Pöbel gehaust hat und in dem heute Cafés sind. Ausserdem befand sich hier das Ende des Wenzelspfad, der ja als Rundweg ausgeschildert ist. Wir befanden uns also am Ende eines Kreises, metaphorisch gesprochen.
Wieso hatte ein Rundweg ein Ende? Wieso war das Fotographieren nur an bestimmten Stellen erlaubt? Wer hatte sich die merkwürdige Beschilderung ausgedacht, die einen mehr als oft in die Irre führte? Wie hatte sich Schlachtgesang im 16. Jahrhundert angehört? Was war nochmal der Hohle Zahn? Und vor allem: Wieso hatte die Prinzessin ihre Schuhe ausgezogen?
Das einzige, was jetzt noch blieb, war die Flucht. Die Flucht über einen steilen und schmalen Weg, der sich komischerweise „Breedewee“ nennt, was „breiter weg“ bedeutet…